Mehr Darm in der Lunge bei COVID-19
Ein Experten-Interview mit Prof. Vassilios Fanos
Bei jedem Menschen gibt es eine individuelle Zusammensetzung von Mikroorganismen im Darm, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen, wie etwa die Regulierung der Immunantwort auf eindringende pathogene Bakterien und Viren. Bereits zu Beginn der Pandemie zeigten Untersuchungen [1, 2], dass Menschen, die an COVID-19 erkrankt sind, eine „signifikant veränderte“ Zusammensetzung des Mikrobioms aufweisen. Wir haben mit dem italienischen Wissenschaftler und Arzt Prof. Vassilios Fanos darüber gesprochen. Er widmet sich seit Jahren in seiner Forschung dem Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Immunsystem. In den vergangenen 2 Jahren konnte er in seiner Arbeit auch spannende Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und COVID-19 publizieren. Im Rahmen des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) habe ich ihm einige Fragen gestellt:
Lesezeit: 5 Minuten
Prof. Vassilios Fanos
Professor für Pädiatrie, Universität Cagliari, Italien
Justina Dressler
Biomedizinerin und Medical Education Manager, Microbiotica GmbH, Inning am Ammersee
J. Dressler: Welche Rolle spielt der Magen-Darm-Trakt bei der COVID-19-Infektion?
Prof. Fanos*: Obwohl COVID-19 sich meist in den Atemwegen manifestiert, ist meist auch der Magen-Darm-Trakt von der Infektion betroffen. Es gibt einen Zelloberflächenrezeptor, genannt Angiotensin-Converting-Enzyme 2 (ACE2)-Rezeptor, der bei verschiedenen metabolischen und immunologischen Prozessen eine Schlüsselrolle spielt. Dieser Rezeptor ist allerdings auch das Ziel von Coronaviren. Überraschenderweise ist das Vorkommen dieses Rezeptors im Dickdarm etwa viermal so hoch wie in der Lunge. Dies schafft äußerst günstige Bedingungen für eine Infektion des Darmepithels durch SARS-CoV-2. Die primäre Infektion im Darm kann anschließend an andere Organe gelangen, so zum Beispiel in die Lunge.
J. Dressler: Können Sie kurz die „Darm-Lungen-Achse“ erklären?
Prof. Fanos*: Die Verbindung zwischen der Lunge und dem Magen-Darm-Trakt ist noch nicht vollständig geklärt. Bei Patienten mit Atemwegsinfektionen treten häufig auch Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt auf.
In einigen Fallbeispielen konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem schweren COVID-19 Krankheitsverlauf einen sog. Leaky Gut aufwiesen. Beim Leaky Gut ist die Darmbarriere im Verdauungstrakt gestört und kann Krankheitserreger nicht mehr abwehren. Die Bakterien können dann durch die Darmwand in den Organismus gelangen und in die Lunge wandern, wo Entzündung und akute Lungenschädigung verursacht werden kann.
Bei akuten Lungenerkrankungen wie zum Beispiel einer Sepsis, Trauma und akutem Atemnotsyndrom ist die Lungenmikrobiota häufig mit Bakterien aus dem Darm, wie Bacteroidetes und Enterobacteriaceae, besiedelt. Dieses Phänomen bezeichne ich als „mehr Darm in der Lunge“.
Nebenbei bemerkt möchte ich erwähnen, dass das Mikrobiom einer gesunden Lunge durch eine hohe mikrobielle Vielfalt, aber niedrige Besiedelung charakterisiert ist. Umgekehrt hat eine erkrankte Lunge eine geringe Vielfalt der vorherrschenden Bakterien mit einer erhöhten bakteriellen Besiedelung.
J. Dressler: Erhöht eine intestinale Dysbiose die Anfälligkeit für eine SARS-CoV-2-Infektion?
Prof. Fanos*: Wie bereits gesagt, begünstigt eine gestörte Darmbarriere die Infektion mit Krankheitserregern, da diese die Schutzbarriere leichter überwinden können.
Zudem hat man festgestellt, dass die Mikrobiota im Darm die Expression von ACE2-Rezeptoen regulieren und beeinflussen kann. Ist das Mikrobiom nicht im Gleichgewicht (Dysbiose) und tritt vermehrt Entzündung im Darm auf, erhöht sich die ACE2-Rezeptor Anzahl im Darmepithel. Dies wurde in klinischen Untersuchungen bestätigt: die ACE2-Expression bei Patienten, die ein proinflammatorisches Darmmikrobiom aufwiesen, war höher im Vergleich zu den Patienten mit einem intakten Darmmikrobiom.
J.Dressler: Glauben Sie, dass die Verabreichung von spezifischen Probiotika für die Prävention und Behandlung von COVID-19 nützlich sein könnte?
Prof. Fanos*: Wir wissen, dass die Darmmikrobiota bei COVID-19 eine wichtige Rolle spielt und dass eine dysbiotische Darmmikrobiota multisystemische Entzündung begünstigen kann.
Ein Gleichgewicht der Darmflora ist erstrebenswert. Die Bakterien im Darm verhindern das Eindringen fremder Substanzen, bilden Schutzfaktoren, die einen antimikrobiellen Effekt haben und hemmen die Aktivität und das Wachstum schädigender Keime.
Die Einnahme spezifischer Probiotika bezweckt eine Besiedlung gesundheitsfördernder Bakterien im Darm. Die Darmbarriere wird gestärkt. Eine Modulation der Darmmikrobiota mithilfe von spezifisch untersuchten Probiotika könnte auch ein vielversprechender Ansatz zur Prävention von COVID-19 sein. Neben der Stärkung der Darmbarriere, gibt es andere bekannte Mechanismen, welche eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung von Entzündungen und einem erhöhten Infektionsrisiko spielen!
J. Dressler: Können Sie darauf genauer eingehen: Wie würden Probiotika die Immunantwort bei COVID-19 beeinflussen? Was wäre der Mechanismus dahinter?
Prof. Fanos*: Zum einen durch direkte Bindung an das Virus. Dadurch hemmen probiotische Bakterien den Eintritt in die Epithelzellen. Manche probiotische Bakterien blockieren die Anheftung des Virus an den Rezeptor der Wirtszelle. Bei Covid-19 wäre es der bereits genannte ACE2-Rezeptor.
Außerdem setzen einige probiotische Bakterien Substanzen frei (z. B. Bakteriozine, Biotenside, Wasserstoffperoxid, Stickstoff-oxid, organische Säuren), die antimikrobiell und antivirulent wirken können.
Auch bakterielle Stoffwechselprodukte wie die kurzkettigen Fettsäuren sind sehr gesundheitsfördernd: Sie unterstützen das Immunsystem der Darmschleimhaut. Außerdem können sie die Anzahl und Funktion von T-Zellen stärken und so übermäßige Entzündungen und Immunreaktionen bei Atemwegserkrankungen abschwächen.
J. Dressler: Lieber Prof. Fanos, vielen Dank für diese spannenden Insights. Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch die letzte Frage stellen: Welche Empfehlungen können Sie Ärzten und Apothekern in Bezug auf COVID-19 und das Mikrobiom geben?
Prof. Fanos*: Erstens: Das Ausbleiben von Fieber bei der ersten Untersuchung schließt COVID-19 nicht aus. Es ist möglich, dass COVID-19 ausschließlich mit gastrointestinalen Symptomen auftritt.
Zweitens: Das Darmmikrobiom spielt eine wichtige Rolle bei der Immunregulierung und kann daher die Immunantwort auf COVID-19 sowie die Reaktion auf die Behandlung entscheidend beeinflussen. Eine gesunde Darmmikrobiota ist für den Schutz vor Lungeninfektionen ausschlaggebend. Die Modulation der Darmmikrobiota durch spezifische Probiotika könnte daher ein grundlegender Ansatz zur Prävention und Behandlung von COVID-19 sein.
Drittens: Auch eine gesunde Ernährung spielt eine wichtige Rolle – vor allem Ballaststoffe sind eine wertvolle Nahrungsquelle für Darmbakterien. Ballaststoffe sind pflanzliche Faser- und Quellstoffe. Obwohl sie für den Menschen weitgehend unverdaulich sind, können Bakterien die Ballaststoffe verstoffwechseln. Wie bereits vorhin erwähnt sind die resultierenden Stoffwechselprodukte, wie kurzkettige Fettsäuren, gesundheitsförderlich für den Organismus!
Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass viele bakterielle Metaboliten bei COVID-19-Patienten hoch- oder herunterreguliert (z.B. Tryptophan) sind, was sie von gesunden Personen unterscheidet. Diese Metaboliten könnten als Biomarker für COVID-19 oder als individuelle Therapieoption dienen und sind meines Erachtens nach „Die Medizin der Zukunft“. Unser Verständnis der Rolle des Darmmikrobioms bei der COVID-19-Infektion steckt allerdings noch in den Kinderschuhen, aber künftige Forschungen könnten unser Verständnis der Virusinfektion verbessern und neue Wege zur Behandlung und Prävention eröffnen.
J. Dressler: Herzlichen Dank für das spannende Interview, Prof. Fanos!
Referenzen:
- Yeoh et al. Gut. 2021;70(4):698-706
- Heenam et al. mBio 2021; 12(1)03022-20
*Die Antworten von Prof. Fanos wurden aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.