Funktionelle Dyspepsie (Reizmagen):
Ursache und Wirkung neu gedacht

Warum Probiotika auch bei Magenbeschwerden helfen können

Während die Wissenschaft sich beim intestinalen Mikrobiom überwiegend auf das dicht besiedelte Kolon konzentriert, nimmt Prof. Dr. Tim Vanuytsel auch eine andere Etage in den Blick: Magen und Duodenum. Als beratender Gastroenterologe an der Universitätsklinik Leuven ist er immer wieder konfrontiert mit funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen. Ein typisches Beispiel dafür sind chronische Magenbeschwerden, für die sich bei rund 70 Prozent der Betroffenen keine organische Ursache finden lässt. Mit dieser funktionellen Dyspepsie (FD oder Reizmagen) gemäß der aktuellen ROM IV-Kriterien haben weltweit rund 7,2 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu kämpfen.[1]

Vanuytsel erläuterte die Unterscheidung in das postprandiale Distress-Syndrom (PDS), das vor allem von Symptomen wie Völlegefühl und frühzeitiger Sättigung geprägt ist, und das epigastrische Schmerzsyndrom (EPS), das unabhängig von Mahlzeiten durch Brennen und Schmerzen im Oberbauch auffällt. Beides entsteht vermutlich wiederum durch ein dysfunktionales Zusammenspiel auf der Darm-Hirn-Immun-Achse, da die FD in einem hohen Maß mit psychischen Problemen wie Angststörungen und Depression assoziiert ist.[2]

Beim Reizmagen-Syndrom nimmt man eine Kombination verschiedener Pathomechanismen an, vor allem eine gestörte Akkommodation des proximalen Magens, eine viszeraler Hypersensitivität und eine verzögerte Magenentleerung. Besonders letztere stellt Vanuytsel als Ursache in Frage: So zeigte eine Studie an 944 FD-Patienten, dass nicht nur ein Viertel von ihnen eine normale Magenentleerungszeit aufwiesen, sondern dass auch in einem Follow-Up nach 48 Wochen ein Großteil der Patienten von einer Gruppe in die andere wechselten. Die Magenentleerungszeit korrelierte insgesamt kaum mit den Symptomen.[3]

Stattdessen konzentriert sich die Forschung inzwischen auf die Rolle des Duodenums. In Studien zeigte sich, dass FD-Patienten ein signifikant durchlässigeres duodenales Epithel aufweisen als gesunde Kontrollen – also ein „Leaky Gut“ im Bereich des Duodenums. Diese erhöhte Permeabilität war zudem mit einer erhöhten prädominant eosinophilen Entzündung assoziiert.[4],[5] Das wiederum eröffnet eine neue Perspektive auf die Pathogenese: Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass der Ursprung der FD nicht im Magen, sondern im Duodenum liegt, wo Trigger aus dem Lumen durch Lücken im Epithel in das umliegende Gewebe geraten. Es kommt zu einer systemischen Immunreaktion und veränderten Signalen an das Nervensystem, die erst nachgelagert zu den typischen Symptomen und u.U. einer verzögerten Magenentleerung führen.[6]

Eine weitere mögliche Ursache für FD-typische Symptome ist eine Infektion mit Helicobacter pylori, das sich bei ca. 5-10 % der FC-Patienten nachweisen lässt. Allerdings mehren sich die Hinweise, dass dies bei Reizmagen-Beschwerden nicht der einzige relevante Keim im Bereich von Magen und Duodenum ist. So gingen in einer randomisierten, doppelt verblindeten Studie an 86 FD-Patienten nach einer zweiwöchigen Behandlung mit Rifaximin die Magenbeschwerden auch im Vergleich zu Placebo signifikant zurück – und diese Patienten waren bereits vorher H. pylori-negativ.[7]

Durch spezielle Biopsieverfahren lassen sich inzwischen im Duodenum auf mikrobielle Ebene auffällige Abweichungen zwischen Gesunden und FD-Patienten nachweisen. Dazu gehört ein deutlich verringerter Anteil an Prevotella, dafür ein auffällig hoher Anteil an Streptokokken. Bei diesen beiden Gattungen gibt es auch signifikante Unterschiede zwischen Patienten mit und ohne eine Therapie mit Protonenpumpen-Inhibitoren (PPI).[8] Auch hier sind die Wirkungen komplex und individuell: Während PPI bei einigen Patienten die Symptome lindern und sogar antientzündliche Effekte zu haben scheinen[9], begünstigen sie bei anderen eine mikrobielle Fehlbesiedelung von Magen- und Darmschleimhäuten, die wiederum mit Beschwerden einhergehen kann. Unter anderem steigt das Risiko für Clostridium difficile-Infektionen.[10] Einen aussichtsreichen Neuzugang im Therapieregime für FD stellen womöglich Probiotika dar, die am Ort der Problementstehung, im Duodenum, wirken. Eine erste randomisierte, doppelt verblindete Probiotika-Studie an der Universitätsklinik Leuven liefert vielversprechende Ergebnisse:

Zum Einsatz kam eine Kombination der sporenbildenden Stämme Bacillus coagulans MY01 und Bacillus subtilis MY02, die natürlich im gesunden Dünndarm vorkommen die inzwischen als das Präparat Innovall® FD auch auf dem deutschen Markt erhältlich sind. Mit diesem probiotischen Präparat ließen sich bei über der Hälfte (55 %) der Patienten die FD-Symptome klinisch relevant und signifikant reduzieren (Responder-Rate bei Placebo: 17 %). Patienten, die zusätzlich PPI einnahmen, profitierten in gleichem Maße wie solche, die das Probiotikum als Monotherapie erhielten. Zudem waren sie signifikant geschützt, eine bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms (SIBO) zu entwickeln. Auch die entzündlichen Prozesse reduzierten sich und die fäkale bakterielle Zusammensetzung zeigte ein gesünderes Bild.[11]

Sehen Sie den Vortrag von Prof. Tim Vanuytsel in voller Länge

Im Rahmen des DGVS-Kongress 2022 in Hamburg erläuterte Prof. Vanuytsel in seinem Vortrag genauer, welche Pathophysiologien bei funktioneller Dyspepsie (FD) den therapeutischen Einsatz von Probiotika begründen und spricht über weitere Details seiner aktuellen Lancet-Studie.


[1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32294476/

[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34561921/

[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33548234/

[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23474421/

[5] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33156108/

[6] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31784469/

[7] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28112426/

[8] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27489239/

[9] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33346007/

[10] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22019794/

[11] https://doi.org/10.1016/S2468-1253(21)00226-0